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Schockrisiko Corona - warum es sich lohnt nun über die psychischen Folgen zu diskutieren

 

Wir haben es immer noch bildhaft vor Augen: Die Nachrichten der letzten Monate, die Bilder aus Italiens oder Chinas Krankenhäusern, die Todeszahlstatistiken, die Infektionsraten pro Tag. All dies stellt zusammen mit den Auswirkungen des Lockdowns, für viele Menschen eine enorme psychische Belastung dar.

Psychiater/innen, Psychotherapeut/innen und Mental Health Professionals aus allen Disziplinen, diskutieren seit Wochen die möglichen psychischen Auswirkungen der Krise. Lange haben wir geahnt und Vermutungen angestellt, wie sich die Krise auf die Psyche auswirken würde.

 

Erste Daten bezüglich der psychologischen Auswirkungen in der Schweiz

Aktuelle psychologische Untersuchungen von der Universität Basel zeigen bereits erste Daten bezüglich der psychischen Auswirkungen der Pandemie. Die Daten sprechen für sich. Neben der sehr guten Nachricht, dass ca 26% der Befragten sich sogar weniger gestresst fühlten als vor des Lockdowns, sind bei 57% der Befragten die Stresssymptome angestiegen. Die Häufigkeit für Symptome einer schweren Depression, haben sich im Zeitraum des Lockdowns um das dreifache erhöht. Auch Menschen, die vor der Krise keine oder wenige psychischen Symptome aufwiesen sind im Lockdown deutlich gefährdet psychische Symptome zu entwickeln. Mittlerweile stehen auch erste Auswertungen von weltweiten Studien zu den psychischen Folgen zur Verfügung, die ähnliche Ergebnisse aufweisen. American Psychological Association (APA) 

 

 

Was hat Corona mit dem 9/11 zu tun und was heisst das für unsere Psyche?

Nicht erst seit den Anschlägen auf das WTC am 9/11 ist die potentielle Gefahr von Medienberichten bekannt.

Psychologische Forschungen gehen davon aus, dass diese Katastrophe ein posttraumatisches Stresssyndrom bei Hunderttausenden von Menschen ausgelöst habe auch bei denjenigen, die das Ganze vor allem über die Medien mitverfolgt haben  (u.a. Silver et al., 2013, Propper et al., 2007, Vasterman et al., 2005).

Katastrophen - seien es nun Anschläge, Naturkatastrophen oder Pandemien - sind immer wieder wichtige Teile aktueller Berichterstattung. Diese beschränkt sich häufig nicht darauf, breite Informationen bereitzustellen und Verhaltensempfehlungen zu geben, sondern beinhalten oft Bilder und manchmal originale Audiomitschnitte, welche die Vorfälle emotional spürbar werden lassen. Der Schrecken, die Ohnmacht und Panik halten so Einzug in unser Nervensystem.

In den letzten Wochen wurden und werden die Medien auch hierzulande nicht müde uns die tägliche Katastrophe vor Augen zu führen. Einzelheiten erspare ich uns.

 

 

Covid 19 - ein Schockrisiko?

Schockrisiken (Dread Risk) sind Situationen, in welchem plötzlich viele Menschen existentiell bedroht werden oder in einem kurzen Zeitraum ums Leben kommen z.B. Flugzeugabstürze, Terroranschläge oder eben Pandemien. Solche Schockrisiken werden besonders gefährlich oder bedrohlich eingeschätzt. Der Schock sitzt "in den Knochen", auch wenn das tatsächliche Sterberisiko weiterhin eher gering bleibt. Auch die Sterbefälle verteilt über das Jahr aufgrund einer bestimmten Ursache, machen uns häufig weniger Angst, selbst wenn deutlich mehr Tote zu beklagen sind. (Gigerenzer et al. 2004) 

 

Je spektakulärer ein Ereignis ist bzw. von den Medien dargestellt wird, desto verzerrter bzw. höher nehmen wir das Risiko wahr. 

Ein Schockrisiko wird in der Psychologie und Risikoforschung als psychische Extrembelastung angesehen, welche zu psychischen Folgeschäden führen kann. 

Eine mögliche Auswirkung von Schockrisiken sind neben typischen Symptomen der Stressbelastung u.a. auch eine extreme Reaktionen der Risikovermeidung. Dieses Phänomen ist nicht mit einer gesunden Vorsicht oder angemessenen Risikoabwägung zu vergleichen. Es zeigt sich in einem Vermeidungsverhalten, welches in manchen Fällen zu noch schlimmeren Ergebnissen führen kann, als das zugrunde liegende Ereignis selbst, vor welchem ich mich schützen wollte.

Infolge dieses Risikovermeidungsverhaltens stieg z.B. die Zahl der Verkehrstoten in den USA nach 9/11 um etwa 4%. Dies vor allem durch den Versuch, möglichen Terroranschlägen in Flugzeugen zu entgehen, indem vermehrt auf das Auto umgestiegen wurde.(u.a.Gigerenzer et al. 2004) 

 

In der Corona Krise zeigt sich bereits jetzt eine sichtbare Tendenz, dass sich Herz-Kreislaufpatienten aus Angst vor einer Covid 19 Ansteckung, zu spät in Notfallstationen meldeten und in Folge von zu später Versorgung teilweise verstarben. Diese Personen haben sich somit aufgrund eines Riskovermeidungsverhaltens in ein noch grösseres Risiko begeben (Deerberg-Wittram et al., 2020). Zeitgleich haben psychiatrische Kliniken in der Schweiz vermeldet, dass es zu weniger Einweisungen kam, dass Versorgungsangebote eingestellt wurden oder dass Menschen mit starker psychischer Vorbelastung ihr Termine bei Behandlern abgesagt haben. 

 

 

Was könnten mögliche Erkenntnisse sein?

In der aktuellen Covid Diskussion müssen somit auch die psychischen Schadensfälle ins Visier genommen werden. In welcher Form Verhaltensauffälligkeiten, extremes Risikovermeidungsverhalten, Depressionen, Ängste oder gar PTBS auftreten werden, kann für die Schweiz erst in einigen Monaten vollumfänglich dargelegt werden. 

 

Gründe für psychische Belastung kann es, neben den bereits genannten, zur Zeit viele geben.

Als Psychotherapeutin höre ich in meiner eigenen Praxis im Moment vermehrt die Angst vor Stigmatisierung. Menschen, die mir mitteilen, dass sie sich nicht mehr trauen öffentlich oder unter Freunden, Bekannten oder Familienmitgliedern, offen über ihre Meinung zu sprechen, aus Angst abgelehnt und diffamiert zu werden. Weitere Themen, die zu Belastungen oder Symptomverstärkung führen können sind u.a. auch Kränkungen aufgrund des Verlustes des beruflichen Status oder gar eingetretener Arbeitslosigkeit oder auch die Angst und Sorge bezüglich der gesellschaftlichen, politischen oder globalen Entwicklungen. Roger Staub von Pro Mente Sana, meldet zudem, dass gerade für psychisch belastete Menschen allenfalls, die Gefahr bestehe eine soziale Phobie zu entwickeln, da in manchen Fällen, die Begegnung mit anderen Menschen, nicht mehr oder nur noch unter  Angst vor Ansteckung möglich ist.

Erste Stimmen über steigende Suizidraten (im Moment vor allem in den USA) werden laut.

 

 

Aufruf zur Diskussion

Angesichts der möglichen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Einzelpersonen wie auch der Bevölkerung besteht nun die Möglichkeit am Gewesenen zu lernen und eine Weiterentwicklung anzuregen. Eine multidisziplinäre Forschung, u.a. aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Soziologie, Pädagogik oder auch Ethik, könnte zukünftig Mittelpunkt der Forschung sein um die psychische Gesundheit von vielen Menschen zu schützen. Mental Health Professionals wie u.a. Psychotherapeut/innen und Psychiater/innen sind hier allenfalls gefordert eine breite Diskussion anzuregen um die psychische Gesundheit gerade in Ausnahmesituationen und Krisen als wichtigen Faktor für die Minimierung von Folgeschäden und Folgekosten erkennbar zu machen.  

 

Folgende nicht abschliessende Punkte zur Erhaltung der psychischen Gesundheit könnten hierzu diskutiert und erforscht werden:

  • Konzepte zur psychischen Unterstützung gefährdeter Gruppen unter Pandemiebedingungen, wie z.B. 
    • Schutz von an der Front tätigem Gesundheitspersonal und Sozialdiensten (z.B. über Krisen- und Traumainterventionen)
    • Schutz von Personen mit bereits bestehenden psychischen Vorbelastungen oder Erkrankungen
    • Schutz von junge Menschen (im Alter von ≤18 Jahren) und ältere Erwachsene (im Alter von ≥65 Jahren)
    • Schutz von Personen des öffentlichen Lebens (u.a. Wissenschaftler, Journalisten, Politiker) vor Stigmatisierung, Mobbing und Diffamierung
  • Interventionen für alle Bevölkerungsgruppen, die unter Pandemiebedingungen durchgeführt werden können, um die Resilienz zu erhöhen und Auswirkungen auf die psychischen Gesundheit zu verringern
  • Sensibilisierung für die Auswirkungen des wiederholten Medienkonsums über Covid 19 auf das psychische Wohlbefinden der Bevölkerung. Allenfalls Konzepte, welche die Regulation von potentiell traumatischen Inhalten in den Medien ermöglichen
  • Methoden zur Förderung einer erfolgreicheren Durchführung von sinnvollen Verhaltensregeln bei gleichzeitiger Erhaltung von psychischem Wohlbefinden und Minimierung von Stress

Die Diskussionen und wissenschaftlichen Erkenntnisse könnten ein evidenzbasiertes Vorgehen in einem nächsten Infektionsfall ermöglichen und gleichzeitig den Schutz der psychischen Gesundheit und den Schutz vor Traumatisierung oder Sekundärtraumatisierung gewährleisten. 

 

Ich freue mich auf einen breiten Austausch von uns allen. Zum Schutz und für das Wohlbefinden von allen Menschen, die in diesen Zeiten besonderen Belastungen ausgesetzt sind.

 

 

 Although the world is full of suffering, it is full also of the overcoming of it.”

― Helen Keller

 

 

 

 

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Gigerenzer, G. (2004). Dread risk, September 11, and fatal traffic accidents. Psychological science, 15(4), 286-287.


Hengen, K. M., & Alpers, G. W. (2019). What´ s the risk? Fearful individuals generally overestimate negative outcomes and they dread outcomes of specific events. Frontiers in psychology, 10, 1676. 


Silver, R. C., Holman, E. A., Andersen, J. P., Poulin, M., McIntosh, D. N., & Gil-Rivas, V. (2013). Mental-and physical-health effects of acute exposure to media images of the September 11, 2001, attacks and the Iraq War. Psychological Science, 24(9), 1623-1634.
 
Yao, H., Chen, J. H., & Xu, Y. F. (2020). Patients with mental health disorders in the COVID-19 epidemic. The Lancet Psychiatry, 7(4), e21.


Gunnell, D., Appleby, L., Arensman, E., Hawton, K., John, A., Kapur, N., & Chan, L. F. (2020). Suicide risk and prevention during the COVID-19 pandemic. The Lancet Psychiatry.
 
Holmes, E. A., O'Connor, R. C., Perry, V. H., Tracey, I., Wessely, S., Arseneault, L., & Ford, T. (2020). Multidisciplinary research priorities for the COVID-19 pandemic: a call for action for mental health science. The Lancet Psychiatry.
 
Propper, R. E., Stickgold, R., Keeley, R., & Christman, S. D. (2007). Is television traumatic?: Dreams, stress, and media exposure in the aftermath of September 11, 2001. Psychological Science, 18(4), 334-340.
 
Vasterman, P., Yzermans, C. J., & Dirkzwager, A. J. (2005). The role of the media and media hypes in the aftermath of disasters. Epidemiologic reviews, 27(1), 107-114.
 
Deerberg-Wittram, J., & Knothe, C. (2020). Do Not Stay at Home: We Are Ready for You. NEJM Catalyst Innovations in Care Delivery, 1(3).

 

Praxis für integrative Psychotherapie & Beratung

 

Nadine Laub

Eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin

Integrative Körperpsychotherapeutin IBP

Somatic Experiencing® Practitioner

 

Beckenhofstr. 1

8006 Zürich

 

Für Termine, Fragen zur Therapie und den Seminaren erreichen Sie mich per Email

praxis@nadinelaub.ch

 

 

 

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